Into the wild

Into the wild

Sorry, ihr Lieben: Ich muss hier raus. Rein in den Wald, in die Einsamkeit. Brauche Platz. Zum atmen und zum lauschen, was der Wind mir flüstert. Keine Stimmen von außen mehr.

Das dachte ich schon tausend Mal in diesem Leben, alleine in den letzten vier Wochen mindestens achtzig Mal. Und am Montag, nach zwei Wochen Karawanisieren in wechselnder Besetzung und voller komplexer Verantwortunsgedanken um Logistik, entwickelte diese altbekannte Sehnsucht schließlich eine solche Vehemenz, dass ich kaum noch still sitzen konnte.

Musste ich auch nicht, wir verabredeten für den Nachmittag eine Solozeit und verschwanden einzeln für eine Stunde in den Kiefernwald von Wildeshausen. Anschließend sollte es einen Council geben.

Einen was? Mmh. Kann man mit Worten erklären, was ein Council ist? Hätten meine Wildnispädagogik-Lehrerinnen Judith und Myriam versucht, mir das mit Worten zu erklären, bevor ich 2012 völlig unbedarft in meinen ersten Council hineingeriet, hätte ich möglicherweise die Fortbildung abgebrochen, die ich ursprünglich doch schlicht zum Erwerb naturwissenschaftlichen Wissens gebucht hatte. Ich habe bedeutende Teile meiner Jugend auf Schützenfesten und mit Kurt Cobain verbracht und hippyeskes Vokabular wie „Redestab“ oder „von Herzen sprechen“ aktiviert bei mir den Fluchtinstinkt.

Zum Glück haben Myriam und Judith 2012 bei unserem Einstieg ins Counciln während der Fortbildung Wörter und Definitionen nach hinten gestellt und uns erstmal einfach Erfahrungen machen lassen. So fand mein erster Council nachts auf einem Waldsofa unter sternenbeschienen Kiefern statt und wir lauschten gebannt einer Geschichte über einen jungen Indianer, bevor dann unsere eigenen Geschichten wie von selbst aus uns herausgepurzelt kamen.

Yep! Counciln ist einfach: Geschichten erzählen. Geschichten austauschen. Ruhig wirre – Hauptsache wahre Geschichten. Das sind vermutlich die einzigen Wörter, die ich benutzen möchte, um dem unbelecktem Leser den Hauch einer Ahnung zu geben, was ein Council ist. Und ansonsten einfach die Geschichte von Montag weitererzählen…

Der Council nach unserer Solozeit im Wald machte mich wieder wach und aufnahmefähig. Sogar, was neue Leute anging. Plötzlich war da nämlich Birgit und gesellte sich in unseren Kreis, dann kamen Myriam, schließlich auch Elke, Henner und zwischendrin noch die Idee auf, die FÖJler, die im Tagungshaus nebenan gerade ihr Abschlussseminar abhielten, abends zu einem weiteren Council ans Feuer einzuladen. Sophie, der ich seit Tagen mein Leid zum Thema Reizüberflutung geklagt hatte, sah in einer lustigen Mischung aus Verwirrung und Begeisterung zu mir und meinen neu erwachten Lebensgeistern rüber, die plötzlich wieder wild um meinen morgens noch so schweren Kopf herumtanzten – einzig und allein beflügelt durch die Aussicht auf einen Geschichtenabend mit einem Haufen junger, unbedarfter Leute.

Und auch Claudia und Monika waren amüsiert-verwirrt, als ich kurz darauf aufgekratzt zu ihnen an den wunderbar duftenden Feuertopf, den sie in der Zwischenzeit gezaubert hatten, gehüpft kam und verkündete, ich würde nun doch nicht, wie beim nachmittäglichen Council beschlossen, für die nächsten 24 h alleine im Wald verschwinden, sondern wäre wieder offen für neue Reize und Stimmen.

Und was für Reize und Stimmen das dann wurden!

Die Namen der vier Jungs, mit denen wir die nächsten Stunden am Feuer saßen weiß ich nicht, aber ich weiß, dass das, was an diesem Abend im Tipi der Wildnissschule gesagt wurde, für mich ein Riesengeschenk war, von dem ich lange zehren werde. Dieser Council unter völlig Fremden, über eine Altersspanne von 45 Jahren und über verschiedenste Lebenswelten hinweg, hat mir die Zweifel am Sinn und Ziel der Karawane, die sich in den letzten Wochen manchmal bei mir eingeschlichen hatten, während ich am Telefonhörer hing, um pupsige Logistik zu klären, in einer einzigen herrlichen Frühlingswindböe weggefegt.

Man erzählt nicht weiter, was im Council gesagt wurde. Das ist eine der wenigen Richtlinien, die es einzuhalten gilt. Denn es darf und kann sehr persönlich werden und dazu braucht es einen geschützten Raum. Die Tür zu diesem Raum hat der bunten Truppe, die sich am Montag abend zusammen gefunden hat, vermutlich Alexander Supertramp geöffnet: Die Figur, die in den 90ern ein junger Amerikaner erfand, um Into the wild abzutauchen. Wir alle kannten den auf einer echten Geschichte beruhenden Film und auch die Gefühle, die den Protagonisten raus getrieben hatten.

Neu oder – zumindest aufgefrischt – wurde an diesem Abend die Erkenntnis:

Into the wild geht’s auch gemeinsam.

Wenn wir unsere Geschichten, Erfahrungen, Ängste, Antworten und Fragen, unsere Begeisterung und unsere Befremdung teilen, werden anstelle von lebensbedrohlichen Ausstiegen lebensbejahende Einstiege möglich.

Au weia. Jetzt benutze ich schon so hippyeske Ausdrücke wie „lebensbejahend“. Wenn das Kurt Cobain und die Leute vom Schützenfest wüssten…

Vielleicht besteht das Riesengeschenk, dass die vier Jungs mir ganz persönlich am Montag abend gemacht haben, einfach darin, die Zuversicht zu wecken, dass der Kern von Counciln irgendwann flächendeckend möglich sein wird: Aufrichtige Kommunikation, bei der eine Wahrheit die andere nicht ausschließt, bei der man dem anderen wertfrei und einfühlsam zuhört, eigene Grenzen, Ängste, Wünsche offen legt…und sich gegenseitig dabei unterstützt, zu wachsen.

Hinterlasse einen Kommentar